• Wieso Katholizismus da weiterhelfen soll (ausser vielleicht im Bezug auf die m.E. hochproblematischen Äusserungen des Herrn aus dem Petersdom) erschliesst sich mir nicht wirklich. Und auch bei mir hinterlĂ€sst dieses SĂ€belgerassel ein rechtes StörgefĂŒhl, zumal es nicht zum teilweise reichlich unkoordiniert-zauderhaften Handeln im Bezug auf die UnterstĂŒtzung der Ukraine passt. In der Bewertung einer möglichen Kriegsgefahr werden zumindest wir zwei wohl nicht einig sein: Sofern man die militĂ€rische Spezialoperation tendenziell immer als Reaktion auf GrossmachtplĂ€ne von NATO und CIA betrachtet, die arglose Student:innen und gewaltbereite Nazis auf dem Majdan fĂŒr ihre Zwecke eingespannt haben, wird man ein Szenario, in dem die nĂ€chste Spezialoperation zur Rettung russischer Minderheiten auf EU- und NATO-Gebiet gestartet wird, wohl fĂŒr reichlich absurd halten. Ich tue das leider inzwischen nicht mehr. Nach einer ebenfalls in meinen Augen wahrscheinlichen Wahl des orangesten PrĂ€sidenten in der Geschichte der USA ist aus meiner Sicht ein russischer Angroff auf einen baltischen Staat ĂŒberhaupt nicht auszuschliessen, insbes. dann nicht, wenn die USA sich und ihr taktisches Atomwaffenarsenal aus Europa zurĂŒckziehen sollten.

  • Franziskus scheint, wenn man ihm nicht böswillig das Wort im Mund verdreht, noch einer der wenigen, die sich noch einen Rest von Besonnenheit bewahrt haben.

    Beim Baltiikum bin ich sogar ein StĂŒck weit bei dir, allerdings nur, weil man mit der idiotischen Schikanierung russischsprachiger Ex-BĂŒrger alles, aber nun wirklich alles erdenkliche tut, um Putin Grund fĂŒr einen Intervention zu geben. GrundsĂ€tzlich gehe ich davon aus, dass - wie es ja auch in der Schweiz der Fall ist - die Verteidigungspolitik derart exponierter LĂ€nder sich auch auf unwahrscheinliche FĂ€lle vorbereiten sollte. Die Baltischen Staaten sind nunmehr seit 20 Jahren Nato-Mitglieder und sollten sich auf die BĂŒndnisvefpflichtung verlassen können. Was in diesen 20 Jahren an defensiven Vorbereitungen unternommen wurde, kann ich als Nichtexperte nicht beurteilen. Doch es wĂŒrde mich schon etwas wundern, wenn die dissuativen ReationsfĂ€higkeiten nicht die nötige Abschreckungswirkung entfalten sollten. Vielleicht mĂŒsste man halt im Doppelagentenmilieu ein paar glaubwĂŒrdige Informationen ĂŒber die eigenen FĂ€higkeiten durchsickern lassen. Wer hier jetzt von aktuer Gefahr redet, erhebt indirekt eigentlich massive VersagensvorwĂŒrfe an die Nato.

    FĂŒr das Stopfen allfĂ€lliger LĂŒcken im Verteidigungsdispositiv des Baltikums muss sicher nicht ganz Europa in den Modus der Kriegswirtschaft ĂŒbergehen. Wer dies fordert, will die Nato zur Kriegspartei in der Ukraine machen.

  • Russland hat schon lange auf Kriegswirtschaft gewechselt, und Iran und Nordkorea liefern fleissig Drohnen und Raketen fĂŒr tagtĂ€gliche Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Es ist nur logisch, dass auch die demokratisch-rechtsstaatlichen LĂ€nder darauf reagieren und sich rĂŒsten, um ihre Freiheit zu sichern. Dazu gehört leider auch eine glaubwĂŒrdige VerteidigungsfĂ€higkeit und ausreichende KapazitĂ€ten, um diese auf lĂ€ngere Frist zu erhalten. Darum geht es: schlicht die Anpassung der Verteidigungspolitik an die traurige RealitĂ€t der RĂŒckkehr des Aggressionskrieges nach Europa.

    Der Kreml versteht nur StĂ€rke und Bestimmtheit als Antwort. Zaudern und Containment laden hingegen direkt ein fĂŒr eine weitere Ausdehnung der Feindseligkeiten gegen andere osteuropĂ€ische Staaten.

    Einmal editiert, zuletzt von FortyCS (19. MĂ€rz 2024 18:26)

  • VersagensvorwĂŒrfe an die Nato

    Dass man an der Ostgrenze nur eine minime PrĂ€senz hatte, soll jetzt Versagen sein? Und wenn sie massiver gewesen wĂ€re, wĂŒrden du und deinesgleichen sagen, dass sei der Grund fĂŒr den russischen Einmarsch :D Irgendwas kann man sich immer zusammenkonstruieren, um den Aggressor zu rechtfertigen und KausalitĂ€ten zu verdrehen.

    Einmal editiert, zuletzt von FortyCS (19. MĂ€rz 2024 18:26)

  • Ob und inwieweit die Aufnahme in die Nato eine Provokation Russlands war, wurde bereits andiskutiert und wĂ€re vielleicht noch weiter zu vertiefen. Hier tut das aber nichts zur Sache. Russland hat diesen Schritt ja offensichtlich (gerade noch) toleriert. Damit ist nicht einzusehen, warum es z.B. den Bau defensiver Verteidigungsanlagen nicht tolerieren sollte. Oder glaubst du, man habe deshalb (um Putin nicht zu reizen) darauf verzichtet?

    Soviel zu

    man sich immer zusammenkonstruieren

    .

  • Beim Baltiikum bin ich sogar ein StĂŒck weit bei dir, allerdings nur, weil man mit der idiotischen Schikanierung russischsprachiger Ex-BĂŒrger alles, aber nun wirklich alles erdenkliche tut, um Putin Grund fĂŒr einen Intervention zu geben.

    Bin ich der einzige, der darob zwar nicht wirklich ĂŒberrascht aber gehörig irritiert ist
?

  • Mittlerweile sollten alle gemerkt haben, dass angeblich schlechte Behandlung russischer Minderheiten nur eine faule Ausrede sind. Sollte es diese nicht geben, wĂŒrde man sich in Russland eben eine andere Ausrede einfallen lassen, um einen Angriff zu rechtfertigen. Die russische Bevölkerung in den baltischen Staaten hat kein Interesse daran, vom russischen Staat ĂŒbernommen zu werden.

  • Die russische Bevölkerung in den baltischen Staaten hat kein Interesse daran, vom russischen Staat ĂŒbernommen zu werden.

    Darum geht es ja auch gar nicht.

    Mittlerweile sollten alle gemerkt haben, dass angeblich schlechte Behandlung russischer Minderheiten nur eine faule Ausrede sind.

    Es ist leider ein Fakt, der von Russland natĂŒrlich ausgenutzt und instrumentalisiert wird. Mir ist ehrlich gesagt schleierhaft, warum man Putin einen solchen Steilpass zuspielt.

  • Wobei der Beweis fĂŒr die Richtigkeit dieser Thesen noch zu erbringen wĂ€re.

    Die Geschichte lehrt allerdings, dass im Bezug auf Bevölkerungsgruppen, die nach dem Zerfall von Vielvölkerstaaten zu ethnischen Minderheiten, an jeder Aussage etwas dran ist. Unter anderem am Schicksal.der Deutschen in der ersten tschechoslowakischen Republik und in Polen nach dem ersten Weltkrieg lÀsst sich das ganz gut nachvollziehen.

    Die Bevölkerungsgruppe muss sichndaran gewöhnen, nicht mehr zur staatstragenden Schicht zungehören, sondern gewissermassen ĂŒner Macht zur Minderheit im eigenen Land zuwerden. Damit gehen die Leute unterschiedlich um: die einen arrangieren sich mit den neuen MehrheitsverhĂ€ltnissen im Staat und "machen das Beste draus". Dabei behalten sie ihren gesonderten ethnisch-kulturellen Hintergrund - mit individuellen Abstufungen. Tendenziell geht im Laufe der Zeit ein Teil dieser Bevölkerungsschicht in der Mehrheitsgesellschaft auf. In der Regel sind diese Leite dem neuen Staat gegenĂŒber loyal, reagieren aber auf eine diskriminierende Behandlung mit Ablehnung oder Wegzug in das Land, wo sie die Mehrheitsgesellschaft stellen (im Polen der Zwischenkriegszeit ein hĂ€ufig zu beobachtendes PhĂ€nomen, das den Vertretern des polnischen Staats durchaus gelegen kam.

    Die andere Bevölkerungsgruppe hĂ€ngt sentimental den Zeiten nach, als "ihre" Bevölkerungsgruppe noch "das Sagen" hatte. Trotz fairer Behandlung und weitgehenden Minderheitenrechten sind sie fĂŒr den neuen Staat nicht zu begeistern und betreiben dessen Erosion. In der ČSR waren das v.a. die AnhĂ€nger der von Hitler umgestĂŒtzten "Sudetendeutschen Volkspartei" unter Konrad Henlein.

    In dem baltischen Staaten vermute ich, dass es eine Mischung von allem ist: Die Darstellung der Behandlung der russischen Bevölkerungsgruppe vom Fahrer Schwarz halte ich persönlich fĂŒr deutlich ĂŒberzogen. Umgekehrt muss abr auch bedacht werden, dass wohl kein "osteuropĂ€isches" Land - und auch nicht die vergleichsweise progressiven baltischen Staaten mit Skandinavien als Orientierungspunkt - wirklich im "postnationalistischen" Zeitalter angekommen sind. Vermutlich hat man da als Russe/ Russin nicht wirklich immer und ĂŒberall was zu Lachen - schlussendlich schwingen da auch noch Ressentiments aus der UdSSR mit. Umgekehrt dĂŒrfte das Interesse gewisser russischstĂ€mmiger Bevölkerungsteile an einer Teilhabe an den "neuen" Staaten ĂŒberschaubar sein - das wĂ€ren dann die Pendants zu dem seinerzeitigen ParteigĂ€ngern der sudetendeutschen Volkspartei der ČSR. Und genau diese Leute sind die "nĂŒtzlichen Idioten" fĂŒr Puton und Co., die zudem das Narrativ von der schlechten Behandlung stĂ€rken und dereinst den Vorwand fĂŒr die nĂ€chste Spezialoperation liefern könnten.

    Und letztlich mĂŒssen in einem.souverĂ€nen Staat auch die Rechte der sprachlichen Mehrheitsgesellschaft gewahrt bleiben, was eine gewisse Anpassung der Minderheit bedingt. Um ein - zugegebermassen etwas schiefes Beispiel von "vor der HaustĂŒr" zu bringen: Wenn ich nach Lausanne fahre, kann ich nicht davon ausgehen, mich ĂŒberall wie selbstverstĂ€ndlich auf Deutsch zu verstĂ€ndigen, umgekehrt mĂŒssen meine welschen Kollegen in Bern damit leben, dass in Meetings in der Regel deutsch parliert wird.

    Schlussendlich glaube ich persönlich auch, dass nicht wenige ethnische Russ:innen dankbar sind, durch die politischen VerĂ€nderungen im Baltikum letztlich EU-BĂŒrger:innen geworden zu sein.

    Fazit: die Wahrheit ist leider wieder mal komplexer, als wir es an unserem virtuellen Stammtisch hier sehen (wollen) und jede Strömung hat leider ihre GrĂŒnde. Was mich zu meinem alten Credo bringt: Sprachnationalismus war und ist eine der blödesten Erfindungen der Menschheitsgeschichte. Leider ist er seit bald 200 Jahren ein Faktor, der die kollektive MentalitĂ€t von Bevölkerungsgruppen deutlich prĂ€gt.

  • Wobei der Beweis fĂŒr die Richtigkeit dieser Thesen noch zu erbringen wĂ€re.

    Das lÀsst sich nachholen - der einschÀgige NZZ-Artikel steht leider hinter der Bezahlschranke, aber meine Ausweichlösung ist ja schon seit LÀngerem nicht mehr so moskauhörig wie in der guten alten Zeit. So sehr ich die von dir soeben geleistete Einordnung in grössere ZusammenhÀnge schÀtze, so sehr muss ich sagen, dass du mit dem Entdramatisieren und Abwiegeln hier auf dem neurotischen Dampfer sitzt - zumindest was Lettland betrifft. Wahrscheinlich merken sie erst nachtrÀglich langsam, was sie sich mit diesem Sprachengesetz eingebrockt haben.

    Ich find's echt relativ krass. Du hast das Beispiel Lausanne und Bern eingebracht, selber schuld: Jetzt versuch dir mal vorzustellen, was wĂ€re, wenn von in der Deutschschweiz lebenden Welschen oder noch nicht eingebĂŒrgerten Grosskantönlern oder von im Tessin lebenden Deutschschweizern plötzlich das Bestehen eines Sprachtests verlangt wĂŒrde, mit Androhung der Ausweisung auf ein bestimmtes Stichdatum - fĂŒr mein VerstĂ€ndnis jenseits von gut und böse. Ja, ĂŒber Italienerfrauen, die nach jahrzehntelanger Anwesenheit noch wenig bis gar kein Deutsch ĂŒber die Lippen brachten, wurde vielleicht gelĂ€stert. Massenausweisungen waren aber spĂ€testens nach Ablehnung der berĂŒhmten 'Überfremdungsinitiative' des Altnazis Schwarzenbach gottseidank definitiv kein Thema mehr. Und dann haben wir eine Nahezu-Grossstadt* Ă€hnlicher Grössenordnung wie das erwĂ€hnte Daugvapils, wo 'Deutsche' und 'Franzosen' ganz selbstverstĂ€ndlich nebeneinander leben und je ihre Sprache sprechen und in der Schule lernen dĂŒrfen. Warum nicht z.B. so?

    *Hier darfst du mir fĂŒr einmal Übertreibung vorwerfen - ich hatte vom Schiff aus den Abstand zum vor einigen Jahren tatsĂ€chlich zur Grossstadt promovierten Winterthur unterschĂ€tzt, vielleicht weil die Seelandmetropole irgendwie fast urbaner daherkommt.

  • Ich glaube, wir sind uns in der EInschĂ€tzung einig, dass "Bieler VerhĂ€ltnisse" v.a. fĂŒr die Metropolen der baltischen Staaten, wo der russischsprachige Bevölkerungsanteil besonders gross ist, ein Idealzustand wĂ€ren. Die von Dir geschĂ€tzte Einordnung in grössere ZusammenhĂ€nge diente aber eben nicht dem von Dir unterstellten "Entdramatisieren" und "Abwiegeln", sondern um aufzuzeigen, warum dort eben keine "Bieler VerhĂ€ltnisse" herrschen. Wir haben hier - gottlob - ein sehr entspanntes VerhĂ€ltnis zur Sprache, eben, weil wir diesen Irrsinn mit der Sprachnation an uns haben vorĂŒbergehen lassen und uns stattdessen lieber an einen Typen gehalten haben, der vor nunmehr bald 800 Jahren seinem Sohn einen Apfel vom Kopf geschossen hat, worĂŒber erst ein Deutscher ein Drama und anschliessend ein in Frankreich lebender Italiener eine Oper geschrieben hat (womit die drei benachbarten "kulturellen Orientierungsnationen" dann am Nation Building irgendwie doch beteiligt waren.... NatĂŒrlich ist das auch reichlich albern, aber - wie die Geschichte gezeigt hat - deutlich unschĂ€dlicher als der Irrsinn mit der Sprache. Im Fall der baltischen Staaten kommt eben - wie in der von mir erwĂ€hnten CSR - der Punkt hinzu, dass sich mit der SelbstĂ€ndigkeit die sprachlichen Mehrheits- und HerrschaftsverhĂ€ltnisse umkehrten. Und damit wird dann im Gesamtkontext Sprache schnell mehr als nur ein Hilfsmittel, um frische Brötchen einzukaufen.

    Da schwingen von beiden Seiten schnell viele Ressentiments mit. Ich will auch gar nicht sagen, dass ich dieses lettische Sprachgesetz unterstĂŒtze. Aber genau, wie Du immer irgendwie VerstĂ€ndnis fĂŒr Putin und seine tschekistischen Kumpane (Ha! Hab ich das Reizwort doch noch untergebracht) hast, habe ich hier auch ein gewisses VerstĂ€ndnis. Und natpĂŒrlich hat man Mitleid mit der armen Frau. Man muss aber auch bedenken, dass sie - wie man dem Text entnehmen kann - seinerzeit fĂŒr die russische StaatsbĂŒrgerschaft optiert hat. Gerade im Zusammenhang mit der aktuellen politischen Lage (und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des historischen Beispiels, das ich brachte - da hat nĂ€mlich genau eine aus dem mĂ€chtigen autokratisch regierten Ausland unterstĂŒtzte sprachliche Minderheit einen recht ordentlich funktionierenden Staat zum erodieren gebracht), kann ich die Reaktion eines Staats im Sinne von "Zeig, dass Du in unserer - seit nunmehr ĂŒber 30 Jahren bestehenden - lettischen Mehrheitsgesellschaft leben willst oder geh" durchaus ein StĂŒck weit nachvollziehen. Mutmasslich richtet sich dieses Gesetz auch nicht gegen eher harmlose Ă€ltere Damen, denen es offenbar in den letzten 5 Jahrzehnten nicht gelungen ist, eine auch noch entfernt verwandte Sprache auf A2-Niveau zu erlernen, die auch in Daugavpils gesprochen wird, sondern eben genau an diejenigen, die aus Sowjetzeiten geblieben sind und davon trĂ€umen, dass Grossrussland eines Tages auch im Baltikum wieder das Szepter schwingen möge.

    Übrigens sind durchaus vergleichbare VorgĂ€nge auch im guten alten westlichen Mitteleuropa noch gar nicht so lange her. Da wurde dann vielleicht nicht die Ausweisungskeule geschwungen (wĂ€re wohl auch schwierig geworden, weil die Leute teilweise seit Jahrhunderten dort wohnten), aber die mittlerweile fast erfolgreich zu Ende gebrachte Romanisierungskampagne im Elsass nach dem zweiten Weltkrieg (da machte man es etwas freundlicher, in dem man etwa in den Bussen Schilder aufhĂ€ngte mit der Aufschrift "parlez francais - cÂŽest chic!) diente letztlich auch dem Zweck der sprachlichen Harmonisierung im Sinne der Mehrheitsgesellschaft - und war mit Sicherheit (und dafĂŒr habe ich jedes VerstĂ€ndnis) auch von den Erfahrungen der vorangegangenen "1000 Jahre" geprĂ€gt.

  • Gerade betreffend der Sprache gibt es halt noch einen weitern Aspekt:

    In den frĂŒheren Vielvölkerstaaten gab es in der Regel eine offizielle "gehobene" Amtssprache, und die eigenen ethnischen Gruppierungen hatten jeweils ihre eigene lokale Sprache. Das funktioniert so lange, wie die "einfachen BĂŒrger" nur lokal mit dem Staat in Kontakt treten mĂŒssen, was dann in der regionalen Sprache erfolgen kann. Aus sprachlicher Sicht ergab das dann quasi "Paralellgesellschaften".

    In den heutigen demokratischen Staaten sieht das gewissermassen anders aus. Damit die Demokratie legitimiert ist und auch wirklich funktioniert, mĂŒssen entweder alle StaatsbĂŒrger die (bzw. eine der) offiziellen Amtssprachen beherrschen, oder man wĂ€hlt den "Schweizer Weg" und stellt sprachliche Minderheiten gleich und erhebt sie ebenfalls in den Status als offizielle Amtssprache.


    Dass man in den ehemaligen UdSSR-Staaten Russisch nicht unbedingt als anerkannte Amtssprache betrachten möchte, hat zweifellos historische, in der neueren Zeit auch politische GrĂŒnde. Dennoch haben gerade auch in den baltischen Staaten die dort lebenden russischsprachigen Bevölkerungsgruppen in der Regel die entsprechende Staatsangehörigkeit, zumal sie z.T. seit Generationen auf dem Gebiet des heutigen Staates leben. Ich kann insofern verstehen, dass man gegenĂŒber der russischsprachigen Bevölkerung Druck ausĂŒbt, dass sie die offizielle Amtssprache auf einem gewissen Niveau zu beherrschen haben.

    NatĂŒrlich fĂŒhrt das zu einer Gegenbewegung des patriotischen Teils dieser Gruppe, die sich dadurch (bis zu einem gewissen Punkt absolut nachvollziehbar) in einer Opferrolle sieht - was natĂŒrlich wiederum fĂŒr jemanden, der sich als Schutzpatron aller Personen, die diese Sprache sprechen, sieht, die perfekten Propaganda-Werkzeuge in die Hand drĂŒckt und eine quasi-Legitimation schafft, zu intervenieren.

  • weil wir diesen Irrsinn mit der Sprachnation an uns haben vorĂŒbergehen lassen und uns stattdessen lieber an einen Typen gehalten haben, der vor nunmehr bald 800 Jahren seinem Sohn einen Apfel vom Kopf geschossen hat, worĂŒber erst ein Deutscher ein Drama und anschliessend ein in Frankreich lebender Italiener eine Oper geschrieben hat (womit die drei benachbarten "kulturellen Orientierungsnationen" dann am Nation Building irgendwie doch beteiligt waren....

    Habe mir diese AusfĂŒhrungen nun reichlich durch den Kopf gehen lassen und frage mich, wie das eigentlich genau war mit diesem gelungenen Beispiel nichtnationalistischen Nationbuildings. Wenn man es so darstellt wie du, mĂŒsste man das Urheberrecht fĂŒr Willensnation eigentlich den DĂ€nen zusprechen. Dass sich die StĂ€dte Luzern, ZĂŒrich und Bern (und spĂ€ter Basel) mit den randalierenden WaldstĂ€tter Bauern verbĂŒndeten - war das irgendeiner Idee geschuldet oder wurde da lediglich aus der Not eine Tugend gemacht? (Wenn wir sie uns nicht vom Leib halten können, mĂŒssen wir halt irgendwie mit ihnen kooperieren.) Und was genau war dafĂŒr ausschlaggebend, dass zuerst Herr Bonaparte und dann der Wiener Kongress Neuauflagen des so entstandenen, zwischenzeitlich zur europĂ€ischen Grossmacht avancierten und zu weiten Teilen vom Export von Söldnern lebenden Schurkenstaats beschlossen - und dass dieser sich in der Folge bis heute zu behaupten wusste?

    Nun aber zurĂŒck zum eigentlichen Threadthema: Bei allem VerstĂ€ndnis fĂŒr dein VerstĂ€ndnis fĂŒr Lettland: Wenn sie das durchziehen, was sie angedroht haben, dann - da muss man jetzt wohl einfach mal Klartext reden - ist das nichts anderes als eine ethnische SĂ€uberung. Und absolut nicht zu vergleichen mit dem Vorgehen von Frankreich oder Italien im Elsass oder in SĂŒdtirol. Klar wurde da auch Druck ausgeĂŒbt. Die Werbebotschaft in den Strassburger Trams war nach meinen Informationen etwas weicher formuliert als von dir zitiert, nĂ€mlich "C'est chic de parler français." (Dass mein Berichterstatter dabei ausgerechnet SchickelĂ© heissen musste - na ja, shit (oder shick) happens ;) ) Der langen Rede kurzer Sinn: Mir wĂ€re nicht bekannt, dass im Elsass Leute wegen mangelnder Französischkenntnisse des Landes verwiesen worden wĂ€ren.

    In SĂŒdtirol einigten sich Hitler und Mussolini auf die so genannte Option, auf die deine AusfĂŒhrungen implizit anzuspielen scheinen. Zum einen mĂŒssen wir uns bewusst sein, dass Hitlerdeutschland und Italien damals Diktaturen waren, mit denen das heutige Lettland sich hoffentlich nicht vergleichen lassen möchte. Zum anderen war dieses Vorgehen immer noch weit von dem entfernt, was Lettland jetzt macht. Anders als du suggerierst hatte die erwĂ€hnte 'arme Frau' nĂ€mlich keine freie Wahl zwischen der lettischen und der russischen StaatsbĂŒrgerschaft. Die russische nahm sie nur aus einer Notlage heraus an, nachdem Lettland sie (mit vielen anderen) ausgebĂŒrgert und zu einer Staatenlosen gemacht hatte.

    Mutmasslich richtet sich dieses Gesetz auch nicht gegen eher harmlose Àltere Damen, denen es offenbar in den letzten 5 Jahrzehnten nicht gelungen ist, eine auch noch entfernt verwandte Sprache auf A2-Niveau zu erlernen, die auch in Daugavpils gesprochen wird, sondern eben genau an diejenigen, die aus Sowjetzeiten geblieben sind und davon trÀumen, dass Grossrussland eines Tages auch im Baltikum wieder das Szepter schwingen möge.

    Das dĂŒnkt mich eine etwas gewagte Mutmassung. Selbst wenn sie stimmen sollte: Sollen wir Lettland jetzt nach dem beurteilen, was es beabsichtigte, oder nach dem, was es tatsĂ€chlich tut? Ich könnte dir noch so einige Katastrophen und Massaker aufzĂ€hlen, die mutmasslich so nicht beabsichtigt waren. FĂŒr mch bleibt es dabei: Dieses Vorgehen ist beispiellos. Mit Sowjetnostalgikern könnte man auch durchaus anders umgehen - solange sie (wie wohl die meisten) nur trĂ€umen, einfach trĂ€umen lassen; die wenigen wirklich gefĂ€hrlichen muss man halt ĂŒberwachen - gerade fĂŒr sie dĂŒrfte der Deutschtest das kleinste Problem darstellen. Dieses idiotische Instrument trifft nicht Staatsfeinde, sondern zielt in rĂŒcksichtsloser und zynischer Weise auf Unschuldige wie die beschriebenen alten Frauen.

  • Um zumindest zu den etwas "off-topic"-platzierten Punkten etwas zu sagen;

    - Beim Schweizer Nationbuilding ging es mir weniger um die Tell-Story als solche - somit geht das Copyright denn auch nicht nach DĂ€nemark -, sondern um den Punkt, dass die junge Nation es im 19.Jahrhundert schaffte, unter Vermeidung des Kriteriums "Sprache" ein Narrativ fĂŒr sich zu finden. Die Story ist dabei genau so relevant oder irrelevant, wie die anderer Nationen - es sei nur auf das "grossmĂ€hrische Reich" verwiesen, auf das sich tschechische Nationalbewegung bezog, das nur leider mit dem in der slowakischen Nationalhostoriographie "Grosslowakisches Reich" genannten Gebilde identisch ist... Somit war und ist hier nicht der mehr oder minder wahre Gehalt mittelalterlicher oder vormittelalterlicher "Stories" relevant gewesen, sondern das, was man daraus im 19.Jahrhundert gemacht.

    Den Begroff "optiert" habe ich in meinen obenstehenden AusfĂŒhrungen eher zufĂ€llig gewĂ€hlt und dabei zumindest nicht aktiv auf die Optantenlösung unter Hitler und Mussolini anspielen wollen, die ĂŒbrigens fĂŒr mich immer noch ein PhĂ€nomen darstellt, dass es trotz dieser Regelung immer noch Menschen gab, die der Ansicht waren, Hitler hĂ€tte sich fĂŒr "das Deutschtum" (was auch immer das genau sein mag) eingesetzt. Einen offensichtlicheren "Verrat" an so etwas wie "Deutschtum", als freiwillig uraltes deutsches "Kulturland" (SĂŒdtirol war immerhin eine Hochburg mittelhochdeutscher Dichtkunst) konnte es doch eigentlich kaum geben,

    ZurĂŒck nach Lettland und Deinen AusfĂŒhrungen: ich kann es letztlich nicht beurteilen. Viele Deiner Argumente scheinen mir nicht ganz von der Hand weisbar zu sein. Allerdings hinken die Vergleiche zum Elsass und SĂŒdtirol insoweit etwas, als die russischsprachige Bevölkerung in Lettland zumindest nicht die seit Jahrhunderten ansĂ€ssige Volksgruppe stellt. Zum Rest der Problematik habe ich ja schon einiges geschrieben, das muss ich hier nicht noch einmal wiederholen.

    Was ich mich allerdings frage, ist Folgendes: Wenn Du resp. die Darstellungen, auf die Du Dich beziehst, Recht hast/ haben, mĂŒsste sich Lettland dann nicht möglicherweise von der EU oder wenigestens vom Europarat oder dem EuropĂ€ischen Gerichtshof f+r Menschenrechte dafĂŒr rechtfertigen oder rĂŒgen lassen.

  • Wenn (...) die Darstellungen, auf die Du Dich beziehst, Recht (...) haben, mĂŒsste sich Lettland dann nicht möglicherweise von der EU oder wenigestens vom Europarat oder dem EuropĂ€ischen Gerichtshof f+r Menschenrechte dafĂŒr rechtfertigen oder rĂŒgen lassen.

    Kann schon sein, nur: Die MĂŒhlen der Justiz mahlen langsam und wo kein KlĂ€ger, da kein Urteil. Ich weiss ehrlich gesagt auch nicht, ob da allenfall bereits etwas hĂ€ngig ist. Ebensowenig weiss ich, ob und wenn ja von wem genau die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland vertreten werden. Kann durchaus sein, dass es sich dabei um Organisationen handelt, die nach Putins Pfeife tanzen. FĂŒr ihn ist es ja umso besser, je schlechter es ist (frei nach Lenin). Hingegen mĂŒsste es eigentlich im Interesse Lettlands und des Westens liegen, in Daugavpils den Tatbeweis anzutreten, dass demokratische Selbstverwaltung auch mit russischsprachigen Bevölkerungen möglich ist. Das könnte im besten Fall enorme Ausstrahlungskraft auf ganz Russland haben. Schade, dass auch die Ukraine diese Chance nicht wahrgenommen hat.

  • Bedenke bitte, dass unter dem originĂ€r russischsprachigen Selenskij die harten ukrainischen Sprachgesetze zumindest in verwĂ€ssernde Richtung revidiert wurden. In der Ukraine dĂŒrfte das v.a. nach den Erlebnissen der russischen Besatzung (und da wurde seitens der Besatzer mutmasslich ungefĂ€hr so wenig nach sprachlichen Russ:innen und Ukrainer:innen unterschieden wie 1945 zwischen Besiegten und Befreiten) inzwischen eher eine untergeordnete Rolle im Russlandbild spielen (was es fĂŒr das Weiterbestehen der russischen Sprachenin der Ukraine allerdings nicht unbedingt einfacher machen dĂŒrfte).

  • Was willst du damit (also im Haupttext und in den Klammerbemerkugen) genau sagen?

    Dass Selenskij die Sprachengesetze wieder etwas aufgeweicht hat, kam wohl insofern zu spĂ€t, als es den Verlust der Krim und die Rebellion im Donbass auch nicht mehr rĂŒckgĂ€ngig machen konnte. Und es war vermutlich nicht nur too late, sondern auch too little, denn im Minsker Abkommen war ja dem Donbass Selbstverwaltung versprochen worden, was die Ukraine aber in der Folge nicht umzusetzen bereit war.

  • Sind wir jetzt wieder an dem Punkt, an dem der russische Einmarsch dann letztlich doch die lang ersehnte Befreigung der unterdrĂŒckten und geknechteten Minderheit war? Just note: zum Zeitpunkt des Minsker Abkommens hatte die Ukraine bereits nicht mehr die volle staatliche SouverĂ€nitĂ€t.

    Und dass der ganz grosse Angriff zu einem Zeitpunkt erfolgte, wo der tendenziell nationalistischere Poroschenko durch den - auch und gerade in der NationalitÀtenfrage - vergleichsweise moderaten Selenskij abgelöst worden war, zeigt doch mehr als deutlich, wo dieser postsowjetische Hase hinlief....

    Und was ich mit Haupttext und Klammerbemerkung sagen will, ist glaub recht deutlich. Butscha - Mariupol - unsoweiter undsofort. Zum 1945er-Vergleich: lies mal Quellen aus Tschechien und Polen oder auch Ungarn und der Slowakei (gut - bei denen war das mit dem "Befreien" nicht ganz so eindeutig....) zum Auftreten von Teilen der Roten Armee. Gewisse Dinge haben da einfach eine lange und unschöne Tradition.

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