22.11.2023 - Bremsversagen SBBCI Güterzug am Simplon

  • Laienfrage: Funktion vom Notaus-Taster ist erklärt und verständlich – vorausgesetzt die Lok hat ein Totmannpedal (wie man es noch vom alten Hörensagen kennt), was passiert wenn dieses nach x Kilometern und/oder y Minuten nicht bedient wird? Schnellbremsung? Notaus? Mehrere Eskalationsstufen?

  • Danke für den Hinweis.

    Bemerkenswert, dass der Lokführer mit vollen Namen ein Interview gab und geben durfte. Gemäss seinen Aussagen bemerkte er bereits in Iselle die fehlende Bremskraft und verlangte freie Fahrt. Vor seinem Absprung in Preglia stand der v-Messer bei 108 km/h.

    Für die Zugreihe N gelten auf der Simplon-Südrampe die v max Iselle–Varzo 110 km/h, Varzo–Domodossola 115 km/h.

    Nach meinem Verständnis entgleist (Aufklettern des Spurkranzes auf den Schienenkopf) bei diesen Geschwindigkeiten kein Zug, auch wenn er nicht für das bogenschnelle Fahren geeignet ist, sofern das Gleis den Querkräften standhält und die Drehgestelle die Verwindungskräfte beherrschen.

    Wie der Zug eingangs Domodossola über die für 60 km/h gebauten Weichen ohne Entgleisung kam, scheint mir allerdings ein Wunder.

  • Spekulation: Es scheint, als habe der Zug schon bremsen können, die Wirkung scheint einfach ungenügend gewesen zu sein. Ohne jegliche Bremsleistung wäre er in der Neigung zwischen Iselle und Preglia sonst wohl deutlich schneller als knapp über 100km/h geworden. Als das Gefälle nach Preglia kleiner wurde, reichte die Bremsleistung um die Geschwindigkeit wieder bis in den Stillstand zu reduzieren. Somit war der Zug bei den Weichen wohl nicht mehr viel schneller als 60 km/h. Ob es noch gereicht hat, um im Ausziehgleis Hemmschuhe zu platzieren, dass der Zug so schön zum stehen kam?

  • Hemmschuhe legen nützt in der Regel bei einer führenden Lok nicht viel. Die Sanderdüse ist rund 50mm über SOK (Schienenoberkant) montiert. Wenn nun ein Hemmschuh gelegt wird, spickt dieser spätestens durch die Sanderdüse vom Gleis.

    Bahnsinnige Grüsse aus dem schönen Kanton Schwyz
    Michel

  • Wie der Zug eingangs Domodossola über die für 60 km/h gebauten Weichen ohne Entgleisung kam, scheint mir allerdings ein Wunder.

    Wie hoch ist denn bei so einer Weiche die nominelle Sicherheitsmarge bezüglich der Geschwindigkeit? Daher ab welcher Geschwindigkeit werden bei einer 60 km/h Weiche die Grenzwerte des Rad-Schienen-Systems überschritten, ab der eine Entgleisung unter normalen Umständen möglich wird?
    Ich würde da noch eine gewisse Reserve erwarten, allenfalls bis Faktor 2 der Kräfte? Was dann so etwa 85 km/h wären, bei einem quadratischen Anstieg.

  • Bemerkenswert, dass der Lokführer mit vollen Namen ein Interview gab und geben durfte.

    Nein, nicht für Italien… Dort ist es alltäglich, alles öffentlich zu machen, auch bei viel schlimmere Vorfälle: Name und jeglichen persönlichen Daten von Opfern und Täter landen sehr schnell in der Presse und bei den nachmittäglichen Talk Shows im Fernsehen.

  •  

    Wie hoch ist denn bei so einer Weiche die nominelle Sicherheitsmarge bezüglich der Geschwindigkeit?

    Ich glaube nicht, dass es dafür eine "nominelle Sicherheitsmarge" gibt. Es kommt immer auf die Umstände an, ob es bei einer stark überhöhten Geschwindigkeit zum Aufklettern des Spurkranzes und damit zur Entgleisung kommt, da spielen sehr viele Faktoren mit.

    Georg

  • Da fällt mir der ICE in Bienenbüttel ein, der mit 185 km/h über eine 80 km/h-Weichenverbindung fuhr. Da war aber sicher viel Glück dabei und hätte ordentlich ins Auge gehen, keinesfalls "nachmachen". (Signal zeigte freie Fahrt und LZB 200 km/h bei einer Störung des Geschwindigkeitsanzeigers am Signal wegen nicht korrekter Anpassung im Stellwerk an neue schnellere Weiche).

    Gruss

    Florian

  • Je enger der abzweigende Strang einer Weiche, desto weniger mag es leiden, auch prozentual. Eine 40er mit 45 km/h zu befahren, ist bereits ziemlich "krachend", während eine 60er mit 70 km/h ganz passabel geht. Nach meinem Verständnis hängt das mit dem bei Weichen fehlenden Übergangsbogen zusammen: Je weniger eng der abzweigende trang ist, desto mehr prägt der fehlende Übergangsbogen aus Komfortgründen und weniger die Entgleisungssicherheit die zulässige v max.

  • Guten Morgen zusammen,

    als bislang stiller Mitleser möchte ich mich auch einmal zu Wort melden.

    Ich schätze, dass der beschriebene strömungsmechanische Sachverhalt nicht ganz korrekt wiedergegeben wurde.

    Bernoulli beschreibt den Effekt, dass der statische Druck in strömenden Medien abhängig von der Strömungsgeschwindigkeit ist. Das heisst, dass der statische Druck innerhalb des Mediums bei schneller Strömung geringer oder bei bei langsamer resp. stehender Luft höher ist. Bei offener Führerstandstür dürfte es somit im Fst einen höheren Druck geben als aussen. Man würde also eher aus dem Fst herausgesogen werden (s. Effekt in der Venturi-Düse).

    Die Gefahr mit dem Sog sollte eher die Haftbedingung der Luft an der Fahrzeugwand resp. Luftwirbel an den Fahrzeugkanten betreffen, welche einen Menschen beim Abspringen zum Fahrzeug hinzieht. Aber da lasse ich mich gern eines Besseren belehren.

    __

    Man kann wirklich von Glück reden, dass hier niemand schlimmer zu Schaden gekommen ist. Allein die verkürzte Zuglänge und das Verhalten der Personale haben Schlimmeres verhindert.

  • In Weichen gibt es eine relativ hohe Sicherheitsmarge. Die laut Richtlinien erlaubte Geschwindigkeit ist weit geringer als die physikalisch mögliche. Ausschlaggebend für erlaubte Geschwindigkeiten sind vielmehr Faktoren aus Komfort und Instandhaltung. Dies gilt besonders für Weichen, die reine Kreisbogenweichen sind, d.h. deren Bogenhalbmesser konstant ohne Verjüngung verläuft (was bei den meisten "kleineren" Weichbauformen der Fall ist). Problematisch ist daher immer der "Einfahrruck". Nichtsdestotrotz können Weichen praktisch mit weit höherer Geschwindigkeit befahren werden, als sie offiziell zugelassen sind. So liesse sich der Minimalradius für eine mit 40 km/h im abzweigenden Strang befahrbare Weiche auf ca. 160m absenken, wenn man eine erhöhte Abnutzung der Zungen und eine schlagartig höhere Seitenbeschleunigung zuliesse. (solche Weichen hat es übrigens auch in der Schweiz bei Normalspurbahnen mal gegeben :SBB I EW 165. )

    Eine eindeutige Grenzgeschwindigkeit ist gar nicht so einfach ermittelbar, weil dabei auch fahrzeugseitige Parameter u berücksichtigen sind. So könnte ein Güterwagen mit tiefem Schwerpunkt je nach Bauform der Laufwerke (Drehgestellbauarten/Federung/ Radprofil) durchaus mit 60 km/h problemlos durch ein nur für 40 km/h zugelassenes Zweiggleis kommen (gut, da quietscht es dann fürchterlich), während ein Leichtbautriebwagen mit hohem Schwerpunkt (Trafo auf dem Dach etc) da schon aufklettern könnte....

    Ein Beispiel: die Entgleisung des D 203 am 05.02.2000 in Brühl. Ursache und Vorgeschichte lassen wir mal weg. Der Zug fuhr definitiv zu schnell über den abzweigende Strang der Weiche 48, eine EW 300, die mit theoretisch 50 km/h , laut Buchfahrplan mit 40 km/h befahrbar war. Laut Auswertung des Fahrtenschreibers hatte die Lok noch ca. 122km/h drauf, worauf die Räder der linken Seite den Kontakt zur Schiene verloren, die Maschine aber nicht die Spur verliess. (aber dennoch ist das schon als Entgleisung zu werden.) Zum Verhängnis wurde dem Zug dann der anschliessende Gegenbogen, die ruckartige zweite Änderung der Fahrtrichtung, mutmasslich mit teilweisem Kontaktverlust der dann führungsseitigen Räder führte zur Vollentgleisung. Es gibt durchaus Stimmen unter Fahrdynamikern, die der Meinung sind, dass der Zug nicht entgleist wäre, wenn nach der Weiche kein Gegenbogen gefolgt wäre......


    (ende Klugsch...-Modus)

    Ich bin kein Klugscheisser, ich weiss es wirklich besser!

  • Da werden einige Dinge etwas ganz grob durcheinander gebracht:

    • Der Physiker hieß Bernoulli (und nicht Bernouille oder Grenouille - so viel Zeit muss sein ;)) - wie schon richtig geschrieben, hat er das Bernoulli-Gesetz formuliert, welches auf dem Energieerhaltungssatz beruht
    • einen "Venturi-Effekt" als solchen gibt es nicht, es handelt sich bei Venturi-Düsen (o.ä. Namen) um eine praktische Anwendung des Bernoulli-Gesetzes

    Folgendes passiert an der Spitze eines Zuges:

    • der verfügbare Platz für die Luft wird durch den Querschnitt des fahrenden Zuges vermindert, sodass die Luft mit höherer Geschwindigkeit als vorher um den Zug herumströmen muss
    • da die Energie der Luft prinzipiell gleich bleibt, sinkt mit steigender Geschwindigkeit ihr statischer Druck
    • daraus folgend hat man außerhalb der Lok seitlich einen Unterdruck, jener im Innenraum wird allerdings weitgehend von der Lüftung erzeugt und ist durch die druckdichte Bauweise vom Außenbereich ziemlich entkoppelt
    • eine offene Führerstandstür (sofern um diese Jahreszeit nicht sehr, sehr unwahrscheinlich ;)) würde zu einem sofortigen und dauernden Druckausgleich führen - da entsteht weder ein Vakuum, ein Überdruck noch ein "Luftsog" oder eine große Strömungsgeschwindigkeit - denn woher sollte die laufend nachströmende Luft in großer Menge kommen? D.h., der Druck im Führerstand wäre in dem Fall gleich mit dem etwas niedrigeren Druck an der Außenhaut der Lok. Was man in der Nähe der Tür spüren wird, sind schlicht und einfach kleinräumige Luftströmungen durch Verwirbelung...
    • damit entsteht auch keine Kraft, durch die man "zurück in den Führerstand gezogen wirst" und auch nicht umgekehrt
    • was allerdings ein wirkliches Problem sein wird - die nach innen öffnende Tür überhaupt öffnen zu können! Schließlich herrscht außerhalb ein leichter Unterdruck und innen ein leichter Überdruck der Lüftung, sie wird also in den Türrahmen gepresst - je nach Geschwindigkeit unterschiedlich stark. Wie gut sich der Unterdruck vorne an der Lok ausbilden kann, hängt aber stark davon ab, wie strömungsgünstig ihre Form ist - in der Realität werden sich ziemliche Luftwirbel bilden... Und die Geschwindigkeit des Zuges sorgt ja auch für eine gewisse Störung der "Luftenergie", was dieses theoretische Modell noch weiter verkompliziert
    • hat man die Lok dann erst verlassen, ist man ohnehin ein Spielball aller Turbulenzen, der relativen Luftströmung durch die noch vorhandene Eigengeschwindigkeit, der Trägheit und der Schwerkraft - da gibt es speziell bei der unruhigen Oberfläche eines Güterzugs wohl kaum ein zuverlässiges Modell, was dann passiert. Das Beste würde wohl sein, mit möglichst großer Geschwindigkeit senkrecht zur Bewegung des Zuges hinauszuspringen, um nicht an einer Kante der Wagen anzuschlagen. Dann bleibt nur mehr die Landung am Boden als Problem übrig - da hat der Lokführer wohl richtig Glück gehabt, besonders angesichts der Geschwindigkeit von über 100 km/h!
    Zitat

    Strömt ein Fluid Gasförmig oder Flüssig an einer Öffnung vorbei, so entsteht innerhalb der Öffnung ein Unterdruck!

    Das ist in gewisser Hinsicht richtig, es handelt sich aber dabei um denselben - niedrigeren - Druck wie außerhalb der Öffnung. Denn der Unterdruck beim Venturi-Rohr entsteht ja nicht durch das "Vorbeiströmen an einer Öffnung", sondern durch die unterschiedlichen Querschnitte im Rohr - mittels der beiden Öffnungen kann man dann diese Drücke messen in den unterschiedlichen Querschnitten. Denn eine Druckdifferenz gleicht sich (relativ) schnell aus, sofern sie nicht wie beim Venturi-Rohr durch eine Flüssigkeitssäule, Druckmessdosen o.ä. daran gehindert wird...

  • Muss sagen, auch der hier sitzende Laie hatte deine "" nicht richtig verstanden, und stellte mich eine aus das Führerstand gezogen Lokführer vor, was meine Beobachtungen im Fst widersprochen hätte. Daher finde ich die Erklärung von hattori grundsätzlich nützlich und angemessen. :)

    Ein Cinkali!
    Sprach und grammatikalische Korrekturen sind willkommen. :D

  • Wir sprechen hier ja von Schnellbremsungen, und aus den oben genannten Gründen (entweder wird die HL geöffnet oder elektrisch gebremst) geht nicht beides bzw. ist nicht zugelassen.

    Im normalen Fahrbetrieb sieht es natürlich anders aus 👍


    Mit bahnsinnigen Grüssen

    Andy...

    Andy

    Ich komme jetzt da doch noch einmal darauf zurück: Mir ist schon klar, dass es nicht überall / immer zugelassen ist. Das ist ja genau der Punkt, den ich kritisiere. Ich habe aber hier jetzt immer noch kein schlaues Argument gefunden, warum das man das nicht machen könnte. Was an meiner Überlegung ist so falsch, dass man bei einer Schnellbremsung jedes verfügbare Bremsmittel nutzen sollte? Es geht doch darum eine Gefahr abzuwenden? (bspw. Kollision mit irgendeiner Art von Hindernis)

    Gruss Chrigi

  • Ich denke, das Argument geht in die Richtung: Für kürzestmöglichen Bremsweg will man keine E-Bremse einsetzen, da diese während der Bremsung ausfallen könnte, was bis zum Einsetzen der Druckluftbremse die Bremsleistung reduzieren würde. Soweit ich weiss ist bei Rangierfahrten der Einsatz der E-Bremse auch nicht erlaubt, wohl mit demselben Argument (wär blöd wenn während der Annäherung zweier Züge zum Kuppeln die Bremse - auch nur kurz - ausfällt).

    Angesichts dessen, dass es aber alle paar Jahre wieder knallt wegen fehlender Bremswirkung obwohl die E-Bremse verfügbar gewesen wäre (der Unfall von Braz 2010 kommt da z.B. in den Sinn) sollte man dieses Argument aber wohl überdenken, zumindest für Geschwindigkeiten > 40 km/h.

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