Medien- und Journalismuskritik

  • Ich habe nach vielen Jahren "Der Bund"-Abo vor vier Jahren auf dessen Digital-Abo umgestellt. Seither muss ich kein Papier und keine Werbung mehr entsorgen (Tamedia erlaubt übrigens auch Adblocker bei bezahlten Abos), strecke die Zeitung im öV nicht mehr meinem Gegenüber in die Nase und kann bei schlechter Beleuchtung im Fahrzeug die Schrift vergrössern...

    Ich habe ehrlich gesagt etwas Mühe mit den Usern, die sich einerseits über Paywalls beschweren und ständig Wege suchen, diese zu umgehen, um fast gleichzeitig über die miserable Qualität von 20 Minuten abzulästern.

    Man muss sich halt entscheiden: Entweder konsumiert man Fremdschäm-Journalismus à la 20 Minuten oder man bezahlt für echten Journalismus. Bei den Tamedia-Produkten ist das aktuell 15 Fr pro Monat, also 50 Rappen pro Tag. Diese geben selbst Personen, die nicht im Erwerbsleben stehen, in der Regel für Dümmeres aus.

    Gruss Chrigu

    Ich erlaube mir, für dieses spannende Thema einen eigenen Thread zu eröffnen. Dazu ein durchaus kontroverser, aber auch bedenkenswerter Gastbeitrag des Chefredaktors von 20 Minuten in der NZZ am Sonntag. Zwei Medien, die in der Schweizer Landschaft ziemlich gegensätzliche Positionen einnehmen.

  • Die Aussage des 20-Minuten-Chefredakteurs sehe ich als medieninteressierter Mensch vollkommen anders. Für mich polarisiert "20 Minuten" schlichtweg und trägt mit seinen Schlagzeilen zu einer Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas bei, anstatt ein Thema konstruktiv anzugehen. Ich boykottiere dieses Blatt konsequent, klicke auch keine Artikel an (auch nicht, wenn mir welche z.B. per Messenger zugeschickt werden) und investiere lieber etwas Geld in Abos und Spenden für qualitativ höherwertigere Titel aus.

  • @Wrzlbrnft
    Da bin ich mit dir 100%-ig einverstanden. Die Behauptung, politisch neutral zu sein, ist recht absurd (und beruht wahrscheinlich auf dem Irrtum, dass man, wenn man auch gewisse Sympathien für SVP und Trump hat, sich als "neutral" bezeichnen darf).

    Insgesamt forciert 20 Minuten die Vollkaskogesellschaft auf Kosten der Eigenverantwortung: Für den verunglückten Gleislatscher ist die Bahngesellschaft Schuld, die das Gleis nicht genug abgesperrt hat, für das von der Bahn erfasste Auto ebenfalls die Bahn, weil es statt einer Barriere nur ein "unscheinbares" Blinklicht oder eine rote Ampel (wer achtet denn auf sowas?) gab. Zusammen mit der von dir erwähnten Vergiftung des politischen Klimas ist das durchaus eine politische Haltung.

    Gruss Chrigu

    Ich bin "chrigu", also weder "Chrigi" noch "chregu".

  • Letztlich hängt die Qualität eben auch von der zur Verfügung stehenden Zeit und den Ressourcen der Schreibenden ab. Der Trend zum Schlagzeilen- und Clickbait-Journalismus steht o.g. Punkten diametral entgegen. Jedoch scheint mir das Interesse an fundierten, gut recherchierten Informationen zunehmend zu wachsen, was für mich auch spendenbasierte Projekte wie die "Republik" zeigen.

    Nur decken diese (zumindest bislang) halt keine tagesaktuelle Berichterstattung ab.

  • Natürlich sind 20min und Blick Boulevard-Medien und deren Titelsetzung und Themenwahl umschreibt man neuerdings mit "clickbait".

    Trotzdem ist die Strategie, die Wünsche der Lesenden ernst zu nehmen, im Grunde richtig. Konsequenterweise haben alle Zeitungen in den letzten 30 Jahren einen deutlichen Rutsch in Richtung Boulevard vollzogen. Beim Tagi ist es so schlimm, den kann ich schon gar nicht mehr ernst nehmen. Und was bei 20min "Adler erlegt Katze" ist, ist bei der NZZ das Feuilleton.

    Was mir auch auffällt: Z.B. vor Abstimmungen erklären Blick und 20min hervorragend (einfacher als andere), um was es geht.

    Kurz: Ich finde die Titelsetzung von 20min auch erbärmlich. Trotzdem denke ich: eine generelle Medienschelte wird der Situation nicht gerecht.

    PS. Ich habe ein NZZ online Abo. Das ist sein Geld wert.

  • Im Zusammenhang mit den Zeitungsvergleich finde ich noch spannend, dass die NZZ für ihre Sonntagsausgabe als neuen Chefredaktor ausgerechnet BlickTV-Chefredaktor Jonas Projer verpflichtet hat.

    Der Blick wiederum hat sich seit Christian Dorer dort das sagen hat qualitativ bei den Artikeln m. M. verbessert. Es ist immer noch Boulevard, aber es doch hochwertiger als 20min...

    Trotzdem ist die Strategie, die Wünsche der Lesenden ernst zu nehmen, im Grunde richtig. Konsequenterweise haben alle Zeitungen in den letzten 30 Jahren einen deutlichen Rutsch in Richtung Boulevard vollzogen. Beim Tagi ist es so schlimm, den kann ich schon gar nicht mehr ernst nehmen. Und was bei 20min "Adler erlegt Katze" ist, ist bei der NZZ das Feuilleton.

    Man kann die Wünsche schon vereinzelt einfliessen lassen. Aber man sollte nicht eine ganze Zeitung darauf aufbauen.

    Das Problem ist, dass verkauften Zeitungsabos jedes Jahr deutlich weniger und die Zeitungen so in eine Abwärtsspirale geraten:
    Dank den Rückgängen dort kommen die Zeitungen immer mehr unter Kostendruck und begegnen dem mit Einsparungen bei der Qualität und das verwenden der Artikel für mehrere Blätter. Dazu kommen Preiserhöhungen jedes Jahr. Mein Zeitungsabo schlägt seit 2016 jedes Jahr um 10 Fr. (!) auf.

    Und die Preise wie auch die bescheidenere Qualität sorgen wiederum dafür, dass immer weniger getreu nach "wieso mehr für weniger" sich ein Abo leisten.

    Mit der Konsequenz, dass für immer mehr Leute die tägliche Info-Lektüre immer mehr aus 20min gedruckt, bzw. 20min/Blick Online besteht und gar kein Geld mehr für bezahlte Infomedien ausgegeben wird. Das finde ich bedenklich...

  • Was anderes kann man von dieser Einheitspresse nicht erwarten!

    ... dem ist nicht ganz so ... u. a. in der Aargauer Zeitung, Badener Tagblatt und Limmattaler Zeitung sieht es so aus:

    SBB - Dem FV-Dosto setzte der Winter zu – die Zuverlässigkeit der neuen Züge war im Januar wieder unter den SBB-Vorgaben | Badener Tagblatt

    Gruss Alois (den Titel: "Mister fifty two" trage ich seit Györ, 26.6.14, BFS Sommerreise)

  • Der oben verlinkte Artikel ist aus meiner Sicht einfach aus der SER etwas neu formuliert worden, also keine Eigenleistung, oder etwa nicht?

    Georg bringt hier unbewusst relativ grosse Missverständnisse zu Tage, die ich hier oft rauslese wenn es um Medienberichterstattungen rund um Bahnen geht

    - Der/Die DurchschnittsleserInnen eines solchen Artikels interessierts nicht, ob der Artikel eine Eigenleistung ist
    - Der/Die DurchschnittsleserInnen lesen nicht noch alle Fachmagazine wie ein SER
    - Der/Die DurchschnittsleserInnen hat ein anders Verständnis und Interessenbedürfnis beim Inhalt verschiedenster Artikel


    Salopp gesagt:

    Von 10'000 können 9950 kaum eine Ae 6/6 von einer Re 6/6 unterscheiden und es ist für die eigentlich übermittelte Nachricht bei einer Katastrophe mit irgendwie 32 Toten auch (in den allermeisten Fällen) völlig unerheblich ob es nun "Ae" oder "Re" war, man könnte für diese 9950 LeserInnen auch eine entgleiste BRIO Bahn abbilden als Symbolbild - Und so verhält es sich mit so manchen Medieninhalt

    Klar wäre es stets erstrebenswert, eine möglichst detaillierte und korrekte Darstellung aller Parameter abzubilden und niederzuschreiben, aber es ist für Durchschnittslesende nicht zentral.
    Klar ist es nervig, wenn im Prättigau ein Zug entgleist und irgend ein Medium den SBB RailInfo-Tweet abbildet und schreibt, die SBB habe die Linie gesperrt und Ersatzbusse aufgeboten, aber dieses "SBB" ist nicht der zentrale Inhalt der Meldung und das was für allfällig Betroffene relevant ist

    Es ist bei News aus den Tiefen der Bahn manchmal sehr zum Schmunzeln, welche Randerscheinungen hier zu schier ausufernden Diskursen und Medienkritiken führt

    Nicht dass ich das irgendjemandem nachtrage, es ist auch kein Angriff auf irgendwen auf persönlicher Ebene, aber man muss sich auch bewusst sein:
    Hier diskutieren nur "50 Kenner" von "10'000 Tagesgeschehen-Interessierten LeserInnen" eines Medienartikels der möglichst viele Ansprechen und grundsätzlich informieren soll, und diese "nur 50" sind dann für Redaktionen ein Rauschen weit weg


    Dass man aber grundsätzlich Medien für ihre Arbeit kritisieren darf, ist klar und auch wichtig.
    Aber man darf auch nicht vergessen, dass sich ein verändertes Verhalten der Medien auch einem veränderten Konsumbedürfnis gegenüberstehen
    Die Welt ist schneller und oberflächlicher geworden im gesamten Konsum
    Man sieht das bei anderen Medien:
    - dauerten Kinofilme früher oft knapp 2h sind es heute kaum mehr 90min
    - Radiosongs in den 80 dauerten oft gegen 4min, heute sinds noch knapp über 3min
    - hatten in den 70s Serienepisoden oft Längen von gegen 40min sind es heute oft 30min

    Dies schlägt sich auch in Medienartikel nieder - Dass dann kürzere News-Artikel öfter gelesen werden liegt auf der Hand, und wenn man dann noch jeden Fachbegriff korrekt niederschreibt und Fachjargon und Nebendaten einschiebt springen die News-KonsumentInnen ab, relativ schnell.

    Und wieso das so ist, wäre dann wieder eine Ei/Huhn-Frage

  • Lieber Aeschli, das mag ja durchaus sein. Aber wer ist denn der "Durchschnittsleser"?

    Ich behaupte mal, fast jeder kennt sich irgendwo ziemlich gut aus und ist bei der Mehrheit der Themen darauf angewiesen, sich die Welt von den Medien erklären zu lassen. Nun haben wir aber die Erscheinung, dass mehr und mehr Leute zur Ansicht neigen, von der Presse und den übrigen Leitmedien eh nur belogen zu werden. Was mache ich nun als Durchschnittsleser, wenn ich das überprüfen möchte? Ich mache einfach das, was ich kann, d.h. ich messe die Glaubwürdigkeit der Medien an jenen Inhalten, die ich tatsächlich selber überprüfen kann.

    Vielleicht ziehe ich das auch nicht ganz so konsequent durch. Aber manchmal beschleicht mich schon ein etwas mulmiges Gefühl, wenn ich mich frage, ob sie bei den weltbewegenden Themen ähnlich sauber arbeiten wie bei Eisenbahnfragen. (Ein ähnliches Thema wären übrigens Grammatik, Satzbau oder Kommasetzung etc.)

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